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DANKE

Anstatt des Autorenportraits

Ich habe zu selten DANKE gesagt. Obwohl ich ein langes, sehr buntes Leben führe, das mich um die halbe Welt gebracht hat. Dabei stolperte ich in die aufregendsten Berufe und fiel  
wunderbaren Frauen in die Arme.
Besser hätte es nicht kommen können.

Allerhöchste Zeit, danke zu sagen. Wem?

Ich glaube an keine höhere Macht, auch an keine Vorsehung, die mein Schicksal gesteuert hätte. Es gibt nur eine Kette von irrationalen Zufällen. Ich habe sie angenommen und etwas daraus gemacht. Und doch gibt es da einen, der alles angestoßen hat und dem ich danken muss: mein Religionslehrer im Gymnasium. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen.

Er war ein stämmiger, kleiner Mann in einem etwas zu engen dunklen Anzug mit Nadelstreifen. Er bewegte sich, vorn vor der Tafel, mit leicht abgespreizten Armen, wie ein Muskelprotz. John Wayne wenn er im Gegenlicht in den Sonnenuntergang spazierte.

Ich ging in München ins Gymnasium. Ich war 16 Jahre alt. Die mittlere Reife stand bevor, so hieß das damals. Ich war kein guter Schüler und kein schlechter. Durchschnitt. Einer, der mit etwas Glück durch jede Versetzung rutschte.
Außerhalb der Schule war ich sportlich. Ich spielte Eishockey und Tennis. Ich hatte schnelle, automatisierte Reflexe.
Mitten in der Religionsstunde, ich war wohl in Gedanken versunken, rief mich der Lehrer, im engen Anzug, zu sich nach vorn an die Tafel. Als ich mich vor ihm aufgebaut hatte, knallte er mir eine, aus heiterem Himmel, ohne ein Wort zu sagen. Mein Trommelfell schien zu platzen. Meine Reaktion war augenblicklich und automatisiert: ich holte weit aus und verpasste ihm schnell nacheinander eine wuchtige Vorhand und eine ebenso rasante Rückhand. Ich hatte mir Kraft und Wucht aus den Knien geholt. Der Kopf des Lehrers schleuderte einmal nach rechts und einmal nach links. Ich ging zurück an meinen Platz, nahm meine Schulbücher und ging nach Hause. Zu Hause sagte ich meiner Mutter:

„Heute war mein letzter Schultag. Ich kann da nicht wieder hingehen.“

„Weißt Du wie es weitergehen soll?“

Ich antwortete: „Ja.“

„Dann ist alles in Ordnung. Ich melde dich morgen ab.“

Ich bekam eine Lehrstelle im grafischen Gewerbe bei einem großen Münchner Verlag. Genau der richtige Beruf. Er öffnete mir später alle Türen. Ich wurde sehr gründlich in München ausgebildet. Mein Beruf brachte mich, nach beendeter Lehrzeit, zuerst in eine besser bezahlte Stellung. Dann, auf Umwegen, nach Tunis, wo ich mich zum ersten Mal selbstständig machen konnte. Ich war ein bisschen in Rom, in Paris und in Mailand, wo wir Zulieferer hatten. Von Tunis ging ich nach Nizza, wegen der Lebensqualität und von dort nach New York City, wegen der  
Energie. Meine Berufe entwickelten sich und wechselten von selber in rasantem Rhythmus. Sie waren bunt und blieben spannend wie meine Beziehungen. Mein Leben wurde abwechslungsreich, dank dieser tollen Berufsausbildung im Kindler Verlag. Wäre mein Religionslehrer mit seiner klatschenden Ohrfeige nicht gewesen, wer weiß, vielleicht hätte ich studiert und wäre ich ein durchschnittlicher Beamter, Notar oder gar Lehrer geworden? Ich hätte mein Leben in einer Stadt verbracht in den immer gleichen Läden eingekauft, im immer gleichen Kino den gleichen Film gesehen? Einmal pro Woche, immer im Dunklen, die gleiche Frau gevögelt? Aber nein, so lebte ich in Karthago bei Tunis, im wunderschönen Nizza und in der Stadt, die niemals schläft, New York City. War nebenher mehrere Monate in Paris, in Rom, Mailand, Boston, L. A. und Miami. Habe Erfolge erlebt und Abstürze. Bin von starken Frauen wieder aufgerichtet worden oder noch tiefer in den Abgrund gestürzt worden. Jetzt lebe ich in Köln als Schriftsteller. Ich besitze einen riesengroßen Fundus an Erfahrungen, aus fremden Ländern, mit fremden Menschen, in den unter-schiedlichsten Gesellschaftsschichten. Bunter geht es nicht. Aus dem Schatz meiner Erfahrungen kann ich noch viele Romane schöpfen.

Wem habe ich das zu verdanken?

Meinem Religionslehrer in München-Pasing. Danke.

 

OLAF CLASEN

Schriftsteller